Des Lebens ganze Fülle

Was fällt mir zur Fülle ein, und was zur Fülle des Lebens. Ja, da gibt es Nahrung, Geld, Kleidung - kurz, die materielle Fülle. Und dann gibt es die geistige Fülle, die reiche Welt meiner Gedanken und Bilder. Aber ohne Liebe, Trauer, Wut fühlt sich meine Fülle fad an.  Könnte ich ohne meine Emotionen, meinen größten Motor, die Lust am Leben aus der Reserve locken? Nein! Denn ich akzeptiere: Fülle ist nicht immer nur schön. Und nicht jede Fülle macht satt.

Aber die Fülle des Lebens ist Ergebnis eines lebendig gelebten Leben. Sie zeigt, dass ich mich stelle, diene, im Leben erlebe, fühle, leide und liebe. Die Fülle ist das einzige, was mein Leben mir zu bieten hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In aller Tiefe Tragik erleben zu können, in höchste Höhe Freude zu empfinden, das gehört für mich zur Fülle dazu. Das Leben bietet genug Anlass für alle diese Facetten. Nicht mehr in diese Widersprüche eintauchen zu wollen oder zu können, heißt für mich, das Geschenk des Lebens nicht ganz zu  nehmen. Es geht darum, Wege zu finden, wie die lebendige  Fülle wieder Teil meines Lebens wird. Dazu gehört es, Hindernisse für die Fülle in meinem Leben aufzuspüren und aktiv aufzulösen. Zu üben, die Fülle für den Moment zu leben, sie im Augenblick zu entdecken,  sie als das zu erkennen, was das Leben mir zu bieten hat. Das empfinde ich täglich als neue Herausforderung für mich.

Wenn ich genau hinschaue und hinfühle begegne ich dieser Fülle in mir. Dabei erlebe ich, dass sie schon da ist, dass sie lange offensichtlich geduldig auf mich gewartet hat - auf genau diesen Moment unseres Zusammentreffens. Und diese Begegnung fühlt sich dann heilig und groß an. Sie ist nicht vergleichbar mit irgendeiner erlebten  scheinbaren  Fülle im Außen - sie ist schon da, ohne mein Dazutun, ohne meine Anstrengung, ohne alles Gold der Welt - und nur für mich!

Der menschliche Geist produziert jede Minute 80 Gedanken, die permanent prägend auf unsere Stimmungen und  Handlungen im Unbewussten einwirken. Wie wenig nehme ich meine im Untergrund hochaktive innere geistige Fülle eigentlich im Alltag wahr?

Die Übung dafür ist eigentlich ganz einfach, und doch gibt es viel Ablenkung. Und gerade diese besonderen und formenden Gedanken können beides: sich in eigener Klarheit entfalten, aber auch verschleiernd, verzehrend und verhindernd zwischen mich und meine Klarheit stellen.

Ich werde still und höre zu, ich höre mir zu und lasse mich Schicht für Schicht in meine eigene Tiefe hineinsinken. Wenn ich mich hineinbegebe, ruhig werde und ganz hineinsinke in meine eigene tiefe Mitte und einfach nur nach Innen schaue, in mich hineinhorche und warte, dann bin ich plötzlich von dieser besonderen höchsten Fülle umgeben, die nur mir gehört und die nur für mich zur Verfügung steht.

Meine mir häufig unbekannte Fülle macht sich mir vertraut, ich bin dann von ihr umgeben. Sie ist einfach da, ich brauche gar nichts zu tun. Ich brauche mir lediglich die Zeit zu nehmen, der Fülle in mir zu lauschen.

Zeit, Ruhe, Geduld, manchmal ist sogar eine Krankheit, währen der ich nicht tätig sein kann, förderlich, um die eigene Fülle in sich selbst kennen zu lernen.

Für mich ist diese Fülle unendlich, diese Fülle braucht kein Dazu-tun, und diese Fülle ist die einzige Fülle, die ich in mir trage. Diese Fülle verbinde ich mit dem, was ist, was zu meinem Leben gehört und mit dem, was weit durch dieses Leben hindurch und darüber hinausgeht. In dieser Fülle fühle ich mich geborgen im Leben und im Tod. Diese Fülle enthält die Kernbotschaft für die  im freudvollen gelebten Leben empfundene Fülle.

Verführerisch scheint die Fülle im Außen, die nicht meine ist. Durch die andere Menschen strahlen. Das Gut, das zu ihnen gehört, scheint mir solange ein bereicherndes Ziel für die eigene Fülle zu sein, solange ich den Mittelpunkt in mir noch nicht gefunden habe. Oder wie Laotse sagt: „Erreiche den Gipfel der Leere, bewahre die Fülle der Ruhe, und alle Dinge werden gedeihen“.